Radikalisierung von Gruppen
Radikale Gruppen stellen nicht nur Sicherheitsbehörden, sondern die gesamte Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. Da Radikalisierungsprozesse oftmals durch soziale Interaktionen in Gruppen vorangetrieben werden und selbst Personen, die schlussendlich im Alleingang handeln, im Vorfeld mit anderen Personen, Netzwerken und Gruppen interagieren, sind Gruppendynamiken, kollektive Identität und Ideologie wichtige Gegenstände der Radikalisierungsforschung.
Radikalisierungsprozesse gehen insbesondere bei jungen Menschen oft mit der Suche nach Sinn, Identität und Orientierung einher. Gruppen wirken aus ihrer Sicht sinnstiftend, indem sie ein klares Lebensziel vorgeben und bei der Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt unterstützen. Die Radikalisierung bereits bestehender Gruppe werden angefacht, wenn etwa subjektive Unrechtserfahrungen wie Diskriminierung, Marginalisierung oder Deprivation von bestimmten Gruppen als Teil eines politischen (oder religiösen) Kampfes interpretiert werden. Aber auch Interaktionsdynamiken wie Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, Repressionen, Konfrontationsgewalt oder Kriminalisierung können eine Radikalisierungsspirale beschleunigen.
Es zeigt, dass unterschiedliche radikale Gruppen bestimmte ideologische Elemente, sogenannte Narrative, teilen, die oft ähnlichen Mustern folgen. Diese ideologischen Gemeinsamkeiten können als „Brückennarrative“ bezeichnet werden. Die Brückennarrative werden auf jeweils unterschiedliche Art angeeignet und zugeschnitten, sind aber inhaltlich, strukturell und funktional ähnlich. Durch das Konzept der Brückennarrative kann hervorgehoben werden, dass Ko-Radikalisierungen nicht nur durch gegenseitige Feindschaft angeheizt werden können. Vielmehr können sich verschiedene Gruppen auch ko-radikalisieren, weil sie auf den gleichen Pool von Narrativen zurückgreifen.
Besonders wichtige Brückennarrative für den deutschen Kontext sind Anti-Imperialismus, Anti-Modernismus und Anti-Universalismus (mit dem gemeinsamen Fluchtpunkt den Antisemitismus) sowie Antifeminismus. Ein weiteres Brückennarrativ, das Widerstands-Dispositiv, bildet die Vorstellung, im (legitimen) Widerstand zu handeln und dadurch Gewalt zu rechtfertigen – dieses Brückennarrativ birgt das größte Potenzial für Radikalisierungsprozesse und sollte zum Gegenstand weiterer Untersuchungen werden. Die Identifizierung und Unterminierung von Brückennarrativen bietet auch der Präventionsarbeit einen hilfreichen Anknüpfungspunkt.
Die Studie
PRIF Report 7/2018
Brücken-Narrative: Verbindende Elemente für die Radikalisierung von Gruppen
David Meiering // Aziz Dziri // Naika Foroutan (mit Simon Teune // Esther Lehnert // Marwan Abou-Taam)
Der Film (UT DE/EN)
Film "Brückennarrative" | Länge 9"20' | Realisation Philipp Offermann mit Manuel Steinert // Lilli Kannegießer | Untertitel Manuel Steinert | HSFK 2018
Handlungsoptionen
- Stigmatisierung vermeiden. Prävention sollte sich nicht gezielt an einzelne Personengruppen richten, sondern entlang von gruppenübergreifenden Brückennarrativen, verlaufen, um Stigmatisierungen einzelner Personengruppen zu vermeiden bzw. eine größere Zielgruppe anzusprechen.
- Ansätze auf neue Adressatinnen und Adressaten ausrichten. Forschung und Präventionsarbeit sollte ihre Ansätze auf neue Adressaten (älter, gebildeter, einkommensstärker) und Formen anpassen.
- Radikale Kritik ernst nehmen. Radikale Kritik ist aber nicht an sich problematisch, sondern Ausdruck bestehender gesellschaftlicher Widersprüche. Grundlegende gesellschaftliche Fortschritte gehen auf radikale Kritik zurück. Repressionsansätze führen dahingegen zu Eskalationsspiralen und Ko-Radikalisierungen.
- Differenzierte Einbeziehung radikaler Akteure. Während für salafistische Communities religiöse „Autoritäten” einen moderierenden Einfluss ausüben können, droht im rechten Bereich die Normalisierung oder Bagatellisierung radikaler Inhalte.
- Präventionsarbeit nicht als Sonderfeld. Präventionsarbeit muss Eingang in die Regelstrukturen finden. Erkenntnisse der sektoral geförderten Programme wie Demokratie Leben müssen in die Arbeit institutioneller Träger der Zivilgesellschaft und der Verwaltung einfließen.
Beteiligte Personen
Koordination
- Naika Foroutan
Berliner Institut für empirische Integrations-und Migrationsforschung (BIM), HU Berlin
Team
- Marwan Abou-Taam
LKA Rheinland-Pfalz - Aziz Dziri
Berliner Institut für empirische Integrations-und Migrationsforschung (BIM), HU Berlin - Esther Lehnert
Alice Salomon Hochschule, Berlin - David Meiering
Berliner Institut für empirische Integrations-und Migrationsforschung (BIM), HU Berlin - Simon Teune
Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) & TU Berlin